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Ein Märchen vom bedrohten Rotmilan? Klickbait-Journalismus beim ZDF

Am 22.2.2022 kam im ZDF-Magazin „Frontal“ der Beitrag „Rotmilan gegen Windkraft – Das Märchen vom bedrohten Greifvogel“. Darin wurde erklärt, Rotmilane seien „nicht durch den Ausbau der Windkraft gefährdet“. Dass ein Rotmilan an einer Windkraftanlage (WKA) stirbt, käme sogar fast nie vor: „An einem Windrad zu sterben, ist ein äußerst seltenes Ereignis, wirklich extrem selten“.

Windräder, so Frontal, sind des Rotmilans kleinstes Problem, denn sie kommen unter den Todesursachen erst an 7. Stelle:

  1. Fressfeinde
  2. Vergiftung
  3. Straßenverkehr
  4. Stromleitungen
  5. Abschuss
  6. Schienenverkehr
  7. Windkraft

Das wäre eine erfreuliche Nachricht. Aber warum haben Ornithologen und andere Naturschützer in den letzten Jahren dann eine Gefährdung dieser und anderer Vögel durch WKA kritisiert?

Frontal hat leider etwas schlampig recherchiert. Mit dem verwendeten Datenmaterial hätten die Produzenten ihren Beitrag noch tendenziöser gestalten können als sie es schon taten. Sie hätten erklären können: Eine Gefährdung durch WKA für den Rotmilan existiert in Deutschland überhaupt nicht. Die Gefahrenliste für Deutschland wäre somit diese: Am gefährlichsten ist der Straßenverkehr, gefolgt von Vergiftungen und Zügen. (Fressfeinde lägen noch an der Spitze, sie stellen aber keine vom Menschen gemachte Bedrohung dar, sondern gehören zu den natürlichen Lebensbedingungen der Art.)

Warum kommt Frontal zu diesen Aussagen? Weil man für die Produktion nur eine Quelle befragt hat, die nur wenig Datenmaterial besitzt.

Seltsam klingt schon einmal die Aussage im Video

„Die häufigste menschengemachte Todesursache ist Gift“ (…), wenn Rotmilane tote Ratten oder Mäuse fressen, die an Giftködern verendet sind. Giftköder sind in der Landwirtschaft üblich und werden illegal bei der Jagd eingesetzt.

Werden bei uns so viele Giftköder gegen Ratten verwendet? Wird bei uns Jagd auf Milane gemacht? Die Quelle dieser Aussagen ist das LIFE EUROKITE Projekt. Das ist ein europaweit aktives Netzwerk von Biologen, die seit 2020 Rotmilane und andere Greifvögel mit Sendern ausstatteten, um so ihr Verhalten zu beobachten. So können auch Todesfälle schnell ermittelt werden, wenn ein Vogel seinen Standort nicht mehr ändert. Über 1.500 Rotmilane wurden bereits besendert. So konnten inzwischen auch schon 426 tote Vögel erkannt werden. Da man sie dank des Senders schnell finden kann, ist oft das Auffinden des Kadavers und anschließend die Bestimmung der Todesursache möglich. Die Fundorte der 216 bisher ausgewerteten Todesfälle sind auf einer Karte einsehbar. In der Kartenlegende sind die verschiedenen Todesarten durch Anklicken der Symbol einzeln aktivierbar.

Dabei zeigt sich, dass die Aussage von Frontal kritisch gesehen werden muss und speziell für Deutschland nicht verallgemeinerbar ist. Die Tode durch Gift fanden hauptsächlich in anderen Ländern statt. Hauptsächlich wurden vergiftete Tiere in Tschechien und Frankreich gefunden. In Deutschland gab es lediglich zwei Fälle. Todesfälle durch Abschuss gab es in Deutschland keinen einzigen, es gab auch keine an Stromleitungen (Stromleitungen werden bei uns so gebaut, dass eine Gefährdung für Vögel minimiert ist).

TodesartEUDeutschland
Unknown5420
Predation3718
Other mortality164
Not yet defined6114
Poisoning182
Shot50
Electrocution60
Collision145
???50

Tod durch WKA wird als Rubrik gar nicht aufgeführt. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass sie mit in „Kollision“ enthalten sind. Davon wurden in Deutschland ganze fünf Fälle registriert. Wenn man mit Google Maps die Stellen vergrößert, findet man vier davon direkt an Straßen (also Tod durch KFZ) und eine Stelle auf einem Bahngleis.

Aber sieht das nicht positiv aus? Es gab in Deutschland also keinen einzigen Fall, dass ein Rotmilan an einer WKA starb. Ja, klingt gut. Und es wäre auch gut, wenn man das glauben könnte. Doch in Deutschland erfasste man lediglich 11 Fälle mit eindeutig oder möglicherweise menschengemachten Ursachen. Auch für ganz Europa ist die Datenlage recht dünn, denn von den 426 Todesfällen ist anscheinend bisher nur etwa die Hälfte (216) ausgewertet (*) und auch davon ist mehr als die Hälfte „unbekannt“ und „noch nicht definiert“, also ungeklärt.

(* Anmerkung vom 05.03.2022: Ursache siehe Nachtrag.)

Diese ungeklärten Todesarten machen mit 34 Fällen auch in Deutschland den Hauptteil aus. Wie schon erwähnt, ist bei Todesfällen durch Prädatoren zu hinterfragen, ob sie in einer Gefährdungs-Liste überhaupt mit erwähnt werden müssen. Für Biologen mag das interessant sein, aber diese Fälle sind keine zusätzlich zum natürlichen Gleichgewicht bestehende Gefahr.

Aus dieser dünnen Datenbasis kann man aber keine allgemeingültigen Erkenntnisse ableiten. Das hätte den Frontal-Produzenten auffallen müssen. Gab es im Journalismus nicht einmal den Grundsatz, mindestens zwei Quellen zu befragen? Warum hat Frontal nicht andere Ornithologen befragt? Beispielsweise sieht man die Situation im Landesamt für Umweltschutz Brandenburg nicht so entspannt. In dessen Schlagopferkartei sind 629 durch WKA gestorbene Rotmilane dokumentiert. Man stuft das Mortalitätsrisiko beim Rotmilan an WKA als „hoch“ ein. An modernen, höher gebauten Anlagen sieht man sogar eine weiter gestiegene Gefahr. In Brandenburg leben ca. 8 % des Weltbestandes der Rotmilane. Der Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA) stellte Ende 2019 eine Analyse vor mit der Aussage: In Landkreisen mit einer hohen Dichte an Windrädern gehen die Rotmilanbestände zurück, während sie in Landkreisen ohne Windräder zunehmen.

Im Frontal-Video wird als Verteidiger des Rotmilans nur eine einzige Person gezeigt – ausgerechnet ein Unterstützer der Bürgerinitiative „WindWahn stoppen“. Damit wird dem Zuschauer gleich zu Beginn verdeutlicht: Leute, die angeblich Greifvögel schützen wollen, sind in Wirklichkeit nur gegen die Energiewende. Verhinderer eben. Aber wäre es so schwer gewesen, nach einem Naturschützer zu suchen, der für Vogelschutz und nicht gegen Windkraft ist? Beim NABU, der dieses Frontal-Video ebenfalls kritisiert hat, wäre man bestimmt fündig geworden.

Dass das Thema „Rotmilan gegen Windkraft“ keineswegs ein „Märchen“ ist, hätten die Frontal-Mitarbeiter auch von LIFE EUROKITE erfahren können. Selbst in deren Publikationen werden Probleme für Greifvögel durch WKA genannt. Hier ist ein Beispiel, hier ebenfalls.

Man darf selbstverständlich gern hinterfragen, ob Tierarten tatsächlich so sehr bedroht sind, wie einige Kritiker behaupten. Aber seriöser Journalismus geht anders.


Nachtrag: Als Ursache dafür, dass von den 426 Todesfällen nur 216 in der Karte dargestellt sind, gibt Dr. Rainer Raab von LIFE EUROKITE an, dass es unterschiedliche Dateneigentümer gibt: „Auf unserer Internet-Seite werden selbstverständlich nur jene besenderte Rotmilane dargestellt, deren Sender im Eigentum des Projektes sind oder Kooperationspartner einer Veröffentlichung auf der Homepage zugestimmt haben. Für die wissenschaftlichen Auswertungen stehen deutlich mehr besenderte Rotmilane zur Verfügung“.

Ein Einblick in die vollständige Auswertung aller Daten ist aktuell nicht verfügbar, wird aber vorbereitet.


Nachtrag 2: Franziska Baur beschreibt in „Ein Naturschutzkrimi über die illegale Verfolgung geschützter Wildtiere in Bayern 2019-2020„, dass die Auswertung anderer Daten nur aus Bayern ergab: Vergiftung ist dort durchaus die häufigste Todesart für den Rotmilan. Allerdings nur unter den Fällen vorsätzlicher Verfolgung und Tötung. Todesfälle an Windrädern wurden nicht mit erfasst, da sie nicht als vorsätzlich betrachtet werden. Erfasst wurden beim Rotmilan 22 Fälle von Vergiftung und 1 Fall von Beschuss. Die Autorin sieht diese Fälle trotzdem im Zusammenhang mit Windkraftanlagen: „Auch um Baugenehmigungen für Windenergieanlagen zu erhalten, werden sie mancherorts gezielt getötet oder ihre Horste zerstört.“


Quellen

ZDF frontal: Rotmilan gegen Windkraft – Das Märchen vom bedrohten Greifvogel

LIFE EUROKITE

NABU: Antwort auf den ZDF-Bericht „Rotmilan gegen Windkraft – Das Märchen vom bedrohten Greifvogel”

Landesamt für Umwelt Brandenburg (LfU): Auswirkungen von Windenergieanlagen auf Vögel und Fledermäuse (Schlagopferkartei)

NABU, 14. Oktober 2019: „Windräder machen dem Rotmilan zu schaffen“ – Klarer Zusammenhang zwischen Windraddichte und Milan-Entwicklung

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