Gibt es öffentliche Debatten tatsächlich?
Mittlerweile ist es zwar schon fast wieder medial abgehakt, aber anhand der kürzlichen Aufregung um Herrn Sarrazins Äußerungen konnte man sich wieder einmal Gedanken machen zum Thema „da herrscht eine breite öffentliche Debatte“. Nebenbei bemerkt: Gibt es eigentlich auch eine schmale öffentlich Debatte?
Egal, was man von Sarrazins Meinung hält: Seine Äußerungen selbst haben keine öffentliche Debatte ausgelöst, sondern lediglich einen üblichen voraussehbaren Effekt in unserer Medienwelt. Sarrazin hat lediglich etwas geliefert, was die Medien zur Existenz benötigen – ein Thema, was sich ordentlich weiterverarbeiten lässt, von dem man also noch eine Weile leben kann. Das Ganze spielt sich immer in mehreren Phasen ab:
1. Jemand liefert das Material, im vorliegenden Fall also Sarrazin. Das kann durchaus in einer relativ unbedeutenden Zeitschrift erfolgen. Mal ehrlich – wer kennt „Lettre International“? Das Magazin erscheint vierteljährlich. Ich will keinesfalls etwas gegen das Magazin sagen (ich kenne es ja auch nicht). Den Artikel darin haben sicher einige Leute gelesen, manche haben sich vielleicht gesagt „genauso isses!“, andere vielleicht „da übertreibt er wohl etwas“, manche dachten möglicherweise „der Sarrazin schon wieder, der bekanntlich von 3,76 € am Tag leben kann…“ – jedenfalls passierte nichts weiter. Einen Aufruhr hat es nicht gegeben, schon gar nicht in der Bevölkerung.
2. Die Zweitverwerter treten auf den Plan: Einige Journalisten schreiben Artikel über den Artikel und beginnen, das Thema überhaupt erst aufzubauen und zu polarisieren.
3. Die Drittverwerter kommen: Weitere Journalisten behaupten nun, diese Angelegenheit hätte ja eine breite öffentliche Debatte ausgelöst. Und das ist falsch. Denn diese angebliche Debatte existiert bisher nirgends in der Bevölkerung, sondern ausschließlich zwischen Journalisten. Wenn man in der Öffentlichkeit normalen Menschen zuhört fällt auf, dass diese über alles Mögliche reden, aber praktisch nicht über dieses Thema, was doch angeblich so eine große öffentliche Debatte ausgelöst hat. Denselben Effekt kann man schön beobachten, wenn in den Medien wieder einmal davon die Rede ist, „ein Aufschrei“ ginge durch die Bevölkerung. Dann kann man sich testweise auf den Balkon, in eine Einkaufspassage oder in eine vollbesetzte Straßenbahn stellen: Hört man hier irgendeinen Aufschrei? Oder wenigstens nur 5% der Leute überhaupt über das Thema reden?
Bei den Texten dieser Drittverwerter fällt erstmalig auf, dass ihre Verfasser den Originaltext offensichtlich gar nicht mehr gelesen haben, sondern sich nur noch auf aus dem Zusammenhang gerissene Teile beziehen. Dieser Drittverwertungen sind aber dummerweise genau die Quellen, worüber die „breite Öffentlichkeit“ das Thema nun überhaupt erstmalig wahrzunehmen beginnt.
4. Allmählich müssen auch die Talkshows reagieren, denn man will ja zeigen, dass man stets an aktuell brisanten Themen dran ist. Die üblichen Politiker und Pseudo-Experten werden eingeladen und müssen nun auch etwas zu diesem anscheinend so wichtigen Thema absondern. Spätestens jetzt wird dem Medienkonsumenten klar, dass das ja wirklich ein wichtiges Thema zu sein scheint. Den Originaltext, auf den sich eigentlich alles bezieht, kennt allerdings inzwischen kaum noch einer.
5. Natürlich werden dann auch die Talkshows noch in der Presse analysiert, aber das ist schon fast nebensächlich. Auf jeden Fall existiert diese angeblich „breite öffentliche Debatte“ oder der „öffentliche Aufschrei“ nicht in der Bevölkerung, sondern spielt sich in Eigendynamik ausschließlich medienintern ab. Einige normale Leute reden dann zwar tatsächlich auch über das Thema, aber diese wenigen Gespräche erfüllen eher die Bedingung für eine „schmale öffentliche Debatte“.
Das Ganze ist letztlich eine wichtige ABM für die Medien, also ein wichtiger Motor für – gerade in der Krise – dringend benötigte Arbeitsplätze. Als Bürger sollte man so intelligent sein und (bei Interesse) nur den Originaltext lesen und die Weiterverwertungen dann ignorieren. Und Anne Will und alle Klone einfach mal nicht einschalten. Bzw.: Zwecks Förderung der eigenen Medienkompetenz kann man die Pseudodebatte natürlich auch gerade belustigt mit verfolgen.